Egoismus ist schrecklich, nicht wahr? Zumindest die Generation der heute Erwachsenen mittleren Alters und älter wurde in der Regel so erzogen, dass es als Tugend gilt, zuerst an die anderen und dann erst an sich selbst zu denken. Wir alle kennen solche Sprüche wie z.B. „Die Welt dreht sich nicht um dich“ oder „Du bist nicht der Nabel der Welt“. Wir wurden dazu angehalten, anderen den Vortritt zu lassen und uns niemals selbst das größte Stück zu nehmen. Grundsätzlich ist dagegen auch nichts einzuwenden. Höflichkeit ist angenehm und erleichtert das Zusammenleben. Menschen, die sich selbst zu wichtig nehmen und sich immer in den Vordergrund drängen, sind eher unangenehme Zeitgenossen und nicht besonders beliebt. Umgekehrt wird die Tugend der Selbstlosigkeit nicht nur in Nachrufen vielgepriesen („Trotz ihrer schweren Krankheit war sie immer für die anderen da“).
Mittlerweile hat sich das Bild gedreht. Wenn man sich heute auf Spielplätzen umschaut, dann findet man Kinder, die – genauso wie früher auch – anderen das Spielzeug wegnehmen und dazugehörige Eltern, die das dann toll finden, weil sich ihr Kind ja „so gut behaupten kann“. Die Ellbogenmentalität der Kinder wird mitunter gefördert, weil das „später im Berufsleben ja nützlich ist“.
Beide diese Haltungen, die Selbstlosigkeit und die egoistische Ellbogenmentalität, gehen im Grunde von derselben Annahme aus, nämlich, dass man zwischen dem eigenen Wohl und dem der anderen zu entscheiden hätte. Das Ziel ist dann, die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse der anderen so halbwegs ins Gleichgewicht zu bringen, ohne dabei zu auffällig zu werden. Die Regeln der Höflichkeit sind dabei natürlich hilfreich.
Ich möchte nun ein bisschen tiefer in dieses Thema eintauchen. Stimmt es denn überhaupt, dass wir uns zwischen uns und den anderen entscheiden müssen? Die schnelle Antwort darauf ist Nein. Weiter unten dazu mehr.
Ein weiterer Aspekt des Themas ist etwas subtiler. Hier geht es darum, dass das Verständnis von Egoismus in unserer Gesellschaft mitunter weiter gefasst ist, als uns guttut. Aus Angst, ja nicht als Egoist zu gelten, verbieten wir uns und unseren Kindern mitunter, die Welt mit eigenen Augen zu sehen und uns als Zentrum dieser Welt wahrzunehmen. Hier werden zwei Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben. Ich frage einmal ganz provokativ: „Mit welchen Augen soll ich die Welt denn sonst sehen, wenn nicht mit meinen? Und diese Welt, die ich mit meinen Augen sehe – Wer ist in ihrem Zentrum, wenn nicht ich? Alles, was ich wahrnehme, sehe ich durch den Filter meiner Lebensgeschichte und meiner Erfahrungen. Es geht gar nicht anders. Ein Egoist ist nur der, der seine Welt als die einzig gültige ansieht und nicht anerkennen will, dass es genauso viele Welten gibt, wie Menschen auf der Erde.
Jetzt könntest du fragen: „Aber wie sollen die Menschen jemals zusammenkommen, wenn jeder in seiner eigenen Welt lebt? Ist dann nicht jede menschliche Interaktion wieder nur ein fauler Kompromiss?“ Sind wir dann nicht wieder an derselben Stelle wie oben, wo es galt, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen möglichst gut unter einen Hut zu bringen?
Die Antwort auf diese Fragen findet sich sowohl in den alten spirituellen Traditionen, als auch in der modernen Wissenschaft. Wenn die alten Weisen und Religionsstifter sagten, dass wir alle eins sind und wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst, so untersucht die moderne Wissenschaft die Natur unseres Nervensystems und was es braucht, damit ein Mensch gedeihen und sich wohlfühlen kann. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist Stephen Porges mit seiner Polyvagaltheorie, über die ich schon an anderer Stelle geschrieben habe. Hier dazu nur soviel: Unser Nervensystem ist ein Säugetier-Nervensystem. Säugetiere sind auf das Überleben im Rudel ausgerichtet. Sie sind keine Einzelkämpfer. Das heißt, unser Nervensystem kommt, wie auch das Nervensystem der Säugetiere, nur dann zu echter Ruhe und Entspannung, wenn wir mit anderen in Kontakt gehen und uns zu einer Gruppe zugehörig fühlen. Es liegt nicht in unserer Natur, uns selbst über andere zu stellen, genauso wenig wie es in unserer Natur liegt, uns selbst für andere aufzugeben.
Die große Frage ist dann: Warum gibt es beides, sowohl den Egoismus als auch die Selbstaufgabe, trotzdem so häufig in unserer Gesellschaft? Die Antwort liegt darin, dass wir alle traumatisiert sind, und zwar traumatisiert in unseren frühen Bindungen. Das heißt, wir bekamen in unserer frühen Kindheit, als unser Nervensystem noch ganz besonders flexibel und offen für neue Eindrücke war, nicht die Art von Bindung und Kontakt, die wir für eine gesunde Entwicklung benötigt hätten. Anstatt zu erleben, dass wir bedingungslos geliebt wurden und immer jemand für uns da war, erlebten wir vielleicht, dass wir nur dann die Zuneigung der Eltern bekamen, wenn wir „brav“ waren, d.h. uns selbst aufgegeben haben. Oder wir mussten erleben, dass die Eltern ständig gestresst waren und für unsere Versuche der Kontaktaufnahme gar nicht wirklich zur Verfügung standen. Dies zwang uns dann, uns auf uns selbst zurückzuziehen, um weiteren Enttäuschungen aus dem Weg zu gehen. Unser Nervensystem, das eigentlich für Kontakt und Bindung angelegt ist, wurde dadurch quasi „falsch programmiert“. Es lernte entweder, dass ich mich selbst aufgeben muss, um Bindung zu bekommen, oder dass Bindung gar nicht möglich ist und ich daher gut daran tue, mich hauptsächlich um mich selbst zu kümmern. Diese Muster leisteten uns in der Kindheit gute Dienste, weil sie uns halfen, weiteres Leiden zu vermeiden. Im Leben eines Erwachsenen jedoch, der ja nicht mehr nur auf eine einzige Bindungsquelle, nämlich die Eltern, angewiesen ist, sind sie nichts anderes als eine Fehlprogrammierung, die uns im Leid der Kindheit festhält.
Was ist nun die Lösung? Sie liegt darin, dass wir uns auf die wahre Natur unseres Nervensystems zurückbesinnen, das ja darauf angelegt ist, mit Menschen, die uns Gutes wollen, in Kontakt zu gehen und eine Bindung herzustellen.
Wenn du ein Mensch bist, der dazu neigt, sich für andere aufzuopfern, musst du lernen, nur mit solchen Menschen den Kontakt zu suchen, die dafür auch geeignet sind, d.h. die gesund genug sind, nicht nur von dir endlos zu nehmen, sondern die dir auch Liebe zu geben haben. Nur so kann dein Nervensystem die Erfahrung machen, dass dir Kontakt guttut und dich so sein lässt, wie du bist.
Wenn du umgekehrt ein Mensch bist, der zu viele Enttäuschungen aufgrund der Unmöglichkeit von Bindung erlebt hat und daher aufgegeben hat, echten Kontakt zu anderen Menschen zu suchen, musst du dich regelrecht dazu zwingen, mit Menschen in Kontakt zu gehen. Du musst lernen, dass nicht alle bindungsunfähig sind, wie vielleicht die Menschen in deiner Kindheit. Du darfst nicht aufgeben. Ganz bestimmt gibt es jemanden da draußen, mit dem du in echten Kontakt gehen kannst.
Der Prozess der Heilung für beide Typen von Menschen ist je nach Grad der Traumatisierung unterschiedlich. Manchmal gelingt es ohne professionelle Hilfe, in anderen Fällen braucht es die Unterstützung eines ausgebildeten Traumatherapeuten. Auch die Kinesiologie kann eine gute Hilfe sein, um ein fehlprogrammiertes Nervensystem wieder zu beruhigen.
Ich bin jedoch überzeugt, dass vollständige Heilung nur durch echten Kontakt mit Menschen und das Herstellen von positiven Bindungserfahrungen möglich ist. Eine Methode, wie man das lernen kann, ist das Ehrliche Mitteilen (EM) nach Gopal Norbert Klein. Folgendes Video ist eine gute Einführung dazu: